Mit der Dissertation über Brecht habe ich den damals neuen, von beiden dominierenden Richtungen der Brecht-Forschung (werkimmanent vs. marxist.-leninist.) heftig bestrittenen Versuch unternommen, den an Karl Korsch orientierten undogmatischen Marxisten, dessen Formel vom eingreifenden Denken die Kategorien Produktion, Praxis, Erkenntnis zusammenzuführen suchte, als Theoretiker und Praktiker im Kontext der ästhetischen Avantgarde des 20.Jahrhunderts zu verorten und zugleich als Vertreter einer experimentell offenen Produktionsästhetik zu exponieren (s. Publ.). Diese erste Projektskizze einer Produktionsästhetik, die Autoren des frühen russischen Futurismus und Formalismus sowie Benjamin einbezog, hat in der literaturtheoretischen Debatte einige Wirkung hinterlassen. Angestossen durch die intensive Auseinandersetzung mit den Schriften Walter Benjamins, mit seinem Begriff historischer Erfahrung und seiner Theorie der bürgerlichen Kultur, habe ich mich Ende der siebziger Jahre den Formen und Bilderfindungen der literarischen Großstadtwahrnehmung seit Ausgang des 18. Jahrhunderts zugewandt; der Habilvortrag von 1978 war dem Verhältnis von Zivilisationskritik und ästhetischer Erfahrung in Edgar Allan Poe’s Erzählung ‚The Man the Crowd’ gewidmet und bezog vergleichend Dickens und Balzac ein. Aus diesen Forschungsarbeiten sind zunächst zwei Monographien hervorgegangen, die sich der Wahrnehmung des Urbanen, seiner Räume wie seiner heterogenen Subjekte, widmeten. Die erste (1985, s. Publ.) versuchte komparatistisch an einem europäischen Textcorpus im Zeitraum von 1775 bis ca. 1850 (Lichtenberg, Campe, Goethe, Arndt, Waiblinger, Balzac, Heine, E.T.A. Hoffmann, Dickens, Poe) den durch den Verlust individueller Souveränität in der urbanen Umwelt hervorgerufenen Zweifel an der Möglichkeit poetischer Souveränität gegenüber dem Gegenstand Großstadt nachzuzeichnen und als einen Auflösungsprozess symbolischer zugunsten allegorisierender Kunstformen zu reflektieren. Die zweite (1989, s.Publ.) rekonstruiert in einem Querschnitt von Quevedo und Lesage, Moritz, Tieck, Hoffmann, Balzac, Zola, Fontane bis zu Kracauer, Benjamin und Jürgen Becker die Literaturgeschichte einer urbanen Wahrnehmungsform, des Fensterblicks als Blick ins Innere des Anderen, als Blick auch in das Innere des betrachtenden Selbst, und entwickelt aus der wechselvollen Verbindung beider Perspektiven in der europäischen Literatur die zerbrechliche innere Bildungsgeschichte der Subjektivität unter den Lebensbedingungen der Moderne. Beide Studien haben mit dazu beigetragen, dass sich seit Mitte der achtziger Jahre eine weitverspannte wahrnehmungstheoretisch orientierte Forschung zum Verhältnis von Urbanität und Literatur entwickelt hat. Im Anschluss daran habe ich eine ganze Reihe kulturwissenschaftlich und interdisziplinär orientierter Aufsätze und Essays über die ästhetische Wahrnehmung des Urbanen in der Moderne des 20. Jahrhunderts vorgelegt. Diese Forschungen weiteten sich auf Wahrnehmungsdispositive und Formbegriffe der ästhetischen Moderne aus, da ich in der dritten Studie zum Urbanismus der Korrespondenz, dem Dialog der Bild- und Formsprachen von Literatur, Bildender Kunst und Architektur nachgehen wollte. Insbesondere mit der Epochenschwelle von 1910 über die einzelnen Künste hinaus wirksam gewordene Formkategorien wie ansichtenmannigfaltige Öffnung, Multiperspektivität, Transparenz, Durchdringung und Überlagerung (compenetrazione, superposition) wurden dabei entscheidend. Um die bildenden Künste wie die Architektur miteinzubeziehen, waren behutsame Grenzüberschreitungen von der Literaturwissenschaft zur Kunstgeschichte, zur Architektur- und Kulturtheorie erforderlich. Da diese Formensprachen zumeist in einem von den Künstlern selber theoretisierten Sinnesdiskurs bzw. einer historische Anthropologie der Sinne fundiert sind, wurde die komplexe Konstellation von Visualität und Modernität zu einem zentralen Thema und machte eine kritische Auseinandersetzung mit den von der kulturwissenschaftlichen Forschung in den U.S.A. vorgetragenen, zum Teil auf Heidegger zurückgehenden Positionen unumgänglich. Einen entscheidenden Anstoß gaben auch hier meine Forschungsarbeiten zu Walter Benjamins Passagenarbeit, so vor allem die Rekonstruktion der Giedion-Rezeption und die Erarbeitung des Artikels ‚Passagen’ für eine Sammlung über ‚Benjamins Begriffe’ (s. Publ.). Erfreulich anregend entwickelte sich seit einem ersten Aufenthalt im Institut für Geschichte und Theorie der Architektur der ETH Zürich die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Vertretern des Faches (keine soi-disant Interdisziplinarität, sondern eine wirkliche, die z.B. zu Einladungen durch das andere Fach führt). So habe ich architekturgeschichtliche und –theoretische Probleme mit Vertretern des Faches gründlich diskutiert – von 1997 bis 2000 u.a. nach Vorträgen am Lehrstuhl für Kunst- und Designgeschichte der BUGH Wuppertal, bei der Fachgruppe Architektur und Design an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, auf einem Symposion am Bauhaus Dessau, im Graduiertenkolleg des Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur an der ETH Zürich; hinzu kamen Vorträge auf einem Symposium der Kunst- und Ausstellungshalle der BRD in Bonn sowie beim Graduiertenkolleg ‚Theorie der Literatur und Kommunikation’ der Universität Konstanz. Im so material vorbereiteten und organisierten Dialog der Bild- und Formsprachen von Literatur, Bildender Kunst und Architektur ging es mir immer auch darum, im Vergleich der Künste die spezifischen, die einzigartigen Möglichkeiten der Literatur, des poetischen Bildes, der narrativen Figurationen, des Essayismus etc. zu profilieren und zu konturieren. So ist eine in der Rekonstruktion von wahrnehmungstheoretischen Konzepten und Sinnesdiskursen (gerade auch solchen von der Literatur selber formulierten) fundierte Formgeschichte der europäischen ästhetischen Moderne im frühen 20.Jahrhundert entstanden (von der futuristischen poesia visiva und Kafka zum Konstruktivismus, Kubismus und Surrealismus, zu Walter Benjamin, Carl Einstein, James Joyce und Robert Musil). In der Auseinandersetzung mit postmodernen Konzeptionen behauptet diese Formgeschichte die Vielstimmigkeit der Moderne und stellt zugleich die Frage nach den Lebensformen und Lebensmöglichkeiten in den urbanen Räumen der technischen Stadt. Die umfangreiche Studie ist im Frühjahr 2002 erschienen (s.Publ.). Um meine Forschungen zur ästhetischen Moderne nicht allein auf das 20. Jahrhundert zu beschränken, habe ich zugleich meine wahrnehmungs- und kulturtheoretischen Perspektiven an Texten und Bildern der deutschen Romantik zu bewähren versucht. Diese Arbeit wurde in dankenswerter Weise durch die Stiftung für Romantikforschung und ihre exzellenten, ebenso intensiven wie produktiven Herbstsymposien gefördert, an denen ich mehrfach teilnehmen konnte. Im Zentrum der Vorträge und Aufsätze stand dabei für mich die spannungsvolle Auseinandersetzung der romantischen Kunst mit der gesellschaftlichen und kulturellen Moderne um 1800. Aus unterschiedlichen Perspektiven: aus wahrnehmungstheoretischen und -geschichtlichen bei Adalbert von Chamisso (Peter Schlemihl) und Jean Paul (Luftschiffer Giannozzo), aus kulturtheoretischen bei Ludwig Tieck und Clemens Brentano. Der letztere hat vor allem theoretische Reflexionen zum Synkretismus von erfundener Architektur und Bild-Räumen in ihrer Bedeutung für das kulturelle Gedächtnis befördert. Studien zur Konstellation von religiösen Bild-Strategien und ästhetischer Landschaft (bei Ludwig Tieck und Caspar David Friedrich, bei Philipp Otto Runge und Joseph von Eichendorff), zu Universalität und Differenz, zur Vielstimmigkeit romantischer Kunst schlossen sich an. Diese forschungsstrategisch gewollte Gleichzeitigkeit hat immer wieder zur wechselseitigen Erhellung der Texte aus der Zeit um 1800 und jenen aus der ästhetischen Moderne des 20. Jahrhunderts geführt. Die Aufsätze sind 2009 in einem Sammelband mit dem Titel ‚Romantik und Moderne. Moden des Zeitalters und buntscheckige Schreibart’ erschienen (s.Publ.). In den Kontext einer Literatur- und Kulturgeschichte der Wahrnehmung gehört der Dialog der Literatur mit den Medien, sowohl in Gestalt einer Technologie der Einbildungskraft wie der intermedialen Konstellationen, die Texte und Filme konstituieren und in denen sie sich bewegen. Dazu habe ich konzeptionelle Vorüberlegungen erarbeitet und auch selber eine intermedial orientierte Filmanalyse vorgelegt (im ersten Kapitel der o.e. Studie zu Wim Wenders 'Lisbon Story'). In den Jahren seit Erscheinen der Monographie 'Architekturen des Augenblicks. Raum-Bilder und Bild-Räume einer urbanen Moderne in Literatur, Kunst und Architektur des 20.Jahrhunderts' habe ich mich mit dem Problem der Pluralität in der Moderne weiter auseinandergesetzt, in den Erscheinungsformen der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wie des (raum-bildlichen) Synkretismus, sowie der frühen (um 1800 angestellten) Versuche, Universalität und Differenz zusammenzudenken. Zugleich habe ich, veranlasst durch einen Artikel für das Benjamin-Handbuch (s.Publ.), meine Studien zu Walter Benjamin in einer Monographie mit dem Titel: 'Walter Benjamin über Spiel, Farbe und Phantasie' (s. Publ.) konzentriert, die Anfang 2007 erschienen ist, viel Anerkennung in der Forschung gefunden hat und inzwischen in der 2. Auflage (2010) vorliegt. Den beiden Büchern folgten Vorträge auf dem Monte Verità in Ascona (Symposion über ‚Stadtformen’ des Graduiertenkollegs am Departement Architektur der ETH Zürich, Juli 2004), in Zürich (Tagung über ‚Die Masse, der Zeitgeist und andere unfassbare Körper, Herbst 2004) und am Deutschen Forum für Kunstgeschichte in Paris (April 2007).
Meine Forschungen zur Romantik und zu Benjamin konnte ich im Juni 2004 auf einer von Günter Oesterle und mir, im Zusammenarbeit mit der Stiftung für Romantikforschung und dem Franz-Rosenzweig-Zentrum veranstalteten (und allen Beteiligten unvergesslichen) Tagung an der Hebrew University Jerusalem zum Thema ‚Walter Benjamin und die romantische Moderne’ auf produktive Weise zusammenführen. Der inzwischen (2009) erschienene, innerlich und äußerlich gewichtige Tagungsband (s.Publ.) stellt die erste umfassende Bestandsaufnahme und Annäherung an dieses komplexe intellektuelle wie literarische Beziehungsgeflecht im Werk Benjamins dar; er ist dem Andenken des im Dezember 2007 in Paris verstorbenen Stéphane Moses gewidmet.
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